19.07.2017

Selbst erzeugte Einsturzgefahr

Neun Fenster lehnen an den Museumswänden Auf die Scheiben der weißen Kunststofffenster sind große orangerote Lettern gemalt. Was wie eine minimalistische Geste anmutet, ist vielmehr eine Übertragung von Archivmaterial aus der unmittelbaren Nachbarschaft der Weserburg in den institutionellen Kunstkontext. Es sind neun von neunzig Fenstern der Fassade des Stammsitzes der Logistikfirma Kühne + Nagel. Die Buchstaben sind Fragmente eines Statements, das Unbekannte im Februar 2017, während der Abrissarbeiten zugunsten eines größeren Neubaus, in Erinnerung an die von dem Speditionsunternehmen verschwiegene eigene Rolle während der NS-Zeit an der Fassade angebracht hatten. Sie bilden den unzerstörten Bestand der bemalten Fenster. Die Botschaft an der Fassade wird nie mehr lesbar sein, doch die Leerstellen innerhalb der Installation Patches of Protest (0C7354HGE) verweisen auf die fehlenden Fensterelemente. Rhythmisiert von verschieden großen Zwischenräumen basiert hier das serielle Prinzip nicht auf der Wiederholung und Spiegelung physischer Formen wie beispielsweise bei Donald Judds Untitled von 1968, sondern die serielle Narration der Leerstellen erklärt sich aus der Werklogik selbst, die auf eine von Weglassungen geprägte Geschichte zurückgeht.
Als standardisierte Unikate sind die Fenster, die als Malgrund dienten, symbolische Inszenierungen des Grundes der Bemalung selbst: Das 1954 entwickelte Kunststofffenster wurde im Zuge des sogenannten deutschen Wirtschaftswunders millionenfach – so auch im 1961 fertiggestellten Stammsitz von Kühne + Nagel – verbaut. Das Plastikfenster ist der Inbegriff einer wirtschaftlich prosperierenden Bundesrepublik, die – auf Kriegsschutt gebaut – die persönlichen Verflechtungen mit dem faschistischen Apparat vergessen will und doch in Kontinuität agiert. So war der Architekt des Gebäudes Cäsar Pinnau kein unbeschriebenes Blatt. Im Dritten Reich hatte er zum Kreis um Albert Speer gehört und erhielt beispielsweise 1938 den Auftrag für die Innengestaltung der Neuen Reichskanzlei.``

Kühne + Nagel selbst war neben der Ausführung von Aufträgen in allen besetzten Gebieten Hauptakteur der sogenannten M-Aktion, auf die mit der Beschriftung der Fenster mit den Worten „500 SCHIFFE 735 ZÜGE 1942-1944 MEHR ALS NUR DIENSTLEISTER... ---- GEGEN DAS VERGESSEN!“ Bezug genommen wurde. Möbel, Gebrauchsgegenstände sowie Kunstwerke der deportierten, zumeist jüdischen Bevölkerung aus Frankreich und den Beneluxstaaten wurden aus deren Wohnungen geraubt und zum Weiterverkauf nach Deutschland transportiert. Davon profitierte das Unternehmen nicht nur durch die Gewinne, sondern erlangte eine logistische Expertise, die nach dem Krieg weiter zur Prosperität des Unternehmens beitrug. Die „Banalität des Bösen“ manifestiert sich nicht in der einen grausamen Tat, sondern in der Addition bürokratischer Vorgänge und einem Apparat, in dem der Einzelne sein Gewissen an die vorherrschende Meinung abtritt.
Ein weiterer Teil der Werkgruppe Patches of Protest verweist mit dem Titelzusatz (WK20170204S9print.pdf) auf den Aktennamen des entsprechenden Presseartikels, der im Onlinearchiv der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz frei einsehbar ist. Dieser gibt Auskunft, dass die Bemalung direkt am Tag nach ihrer Anbringung zensiert wurde, indem die Fenster nach einer kurzfristig anberaumten Sperrung aus dem Gebäude gerissen wurden: „Die Sperrung wurde nötig, weil beim Abbruch des Kühne + Nagel-Gebäudes an der Martinistraße eine Hauswand einzustürzen drohte.“ Die Sperrung wurde mit einer Gefahr begründet, die jedoch erst durch die Abrissarbeiten während dieser Sperrung eintreten konnte.
Es ist eine radikale Aneignung sowohl der Fenster als auch des Presseartikels, die der Künstler als Archivar in den Kunstkontext einschleust. Was der Baggerzensur anheimfallen sollte, wird nun zum dauerhaften Artefakt, das Fragen von Geschichtsschreibung und Autorschaft aufwirft.

Mona Schieren

Mehr zum Thema

30.03.2025
RADTOUR

Erinnerungspolitische Radtour

Gedenkprogramm für die Opfer des Nationalsozialismus
Politische Bildung Bremen

30.09.2024
BERICHTERSTATTUNG

Bremer Forschungskiosk hilft bei Suche nach "arisierten" Gegenständen

Weserkurier zur Erinnerungskultur

24.09.-05.10.2024
PRÄSENTATION

ZWISCHEN DEN DINGEN

Ausstellung und Begleitprogramm im UMZU, Bremen

11.04.-31.05.2024
AUSSTELLUNG

Das fehlende Segment: Die Nordische Kunsthochschule 

Ausstellung in der Bremischen Bürgerschaft

September 2023
INTERVIEW

"Wake up!
The time is now"

mit Barbara Maass, auf Geraubt.de

10.09.2023

VERANSTALTUNG zur

Einweihung des „Arisierungs“-Mahnmal

in der Bremischen Bürgerschaft siehe auch TAZ Artikel zur Einweihung

27.08.2023
RADTOUR

Erinnerungspolitische Radtour zu Orten des NS-Raubs

mit Provenienzforscherin Susanne Kiel vom Deutschen Schifffahrtsmuseum

27.11.2022

VORTRAG, DISKUSSION

"Arisierung", Sponsoring und das Schweigen

Henning Bleyl bei Untiefen - Stadtmagazin gegen Hamburg auf Youtube

28.08.–24.10.2021
PRÄSENTATION

PATCHES OF PROTEST

in der Ausstellung von Wolkenschäden in der GAK Bremen

15.10.2017
BERICHTERSTATTUNG

UP ART - Ausgabe 55: OH WOW

Zeitung des BBK Bremen

27.6.2017
BERICHTERSTATTUNG

Erinnerung an Kühne + Nagel gewinnt

in der TAZ

26.06.2017
PRÄSENTATION

Karin Hollweg Preis 2017 geht an Felix Dreesen

Meisterschüler*innen an der HfK Bremen

Weitere Artikel

03.04.2025

TAZ KOMMENTAR

Schlussstrich vom Chef

zum SPIEGEL interview vom 28.03.

28.03.2025
SPIEGEL Wirtschaft

Wollen sie sich Liebe erkaufen, Herr Kühne?

Ein SPIEGEL-Gespräch von Kristina Gnirke und Alexander Kühn

13.03.2025
tagesschau-Podcast

Kühne + Nagel und das NS-Erbe: Aufarbeitung unerwünscht?

Eine Recherche von Teresia Minjoli und Pia Stendera für Reschke Fernsehen

30.11.2024

Graubündner Zeitung

Vortrag beleuchtet die Rolle des Unternehmens Kühne+Nagel im Dritten Reich

– und den fragwürdigen Umgang damit.

24.10.2024

JACOBIN (NY)

Das Nazivermögen von Kühne + Nagel

Bericht aus der »Vanity Fair« von »JACOBIN« ins Deutsche übersetzt.

09.10.2024
ABC Radio National

The dark secret of Germany's richest man

The Religion and Ethics Report

28.09.2024

Alternatives Economique (Paris)

Aux origines nazies de la première fortune d’Allemagne

Eine Reportage

12.09.2024
Vanity Fair

The Richest Man in Germany Is Worth $44 Billion. The Source of His Family Fortune? The Nazis Know.

by David de Jong

10.09.2023

TAZ

Gedenken unterm Firmensitz

Artikel zur Einweihung des Mahnmals für die „Arisierung“ jüdischen Eigentums

04.09.2023

UNTIEFEN

Der Stachel sitzt: Das Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmal ist da

Erschienen im Stadtmagazin gegen Hamburg von Felix Jacob

22.06.2022
AUSZEICHNUNG

PUBLIKATION: DAS FEHLENDE SEGMENT

auf der Shortlist der Stiftung Buchkunst

16.04.2019

TAZ

Richtfest am Neubau - AktivistInnen protestierten

"AUF RAUB GEBAUT!" – Interview von Jean-Philipp Baeck

08.11.2016

TAZ

„Arisierungs“-Mahnmal kommt

Angestoßen durch eine taz-Kampagne

24.09.2015

TAZ

Ein Bau-Denkmal für Kühne

Kritik am Neubau – nicht nur wegen dessen unaufgearbeiteter NS-Vergangenheit

25.07.2015

TAZ

Kühne&Sohn

Wie ein Traditions-Unternehmen Jubiläum feiert - und was es verschweigt

<< Impressum